„Mobilität in Wien unter COVID19“: Die aktuelle TU-Studie zeigt auf, wie sich die Maßnahmen in der Bundeshauptstadt auf das Verkehrsverhalten auswirken. Dipl.-Ing. Ulrich Leth spricht im Interview mit der Austrian Roadmap 2050 Klartext: Pop-up-Radwege werden dringend benötigt!

ROADMAP: Mehr Menschen in der Stadt bedeuten mehr Ansprüche an den öffentlichen Raum. Wo sehen Sie hier die größten Herausforderungen?
DIPL.-ING. ULRICH LETH: In der Flächenkonkurrenz und in der Bereitschaft der Politik, die dringend notwendigen Maßnahmen zu setzen. Der Nutzungsdruck auf den öffentlichen Raum steigt. Immer mehr Menschen sind auf der gleichen, stark begrenzten Fläche unterwegs. Und gleichzeitig wollen die Menschen den Raum nicht nur als Verkehrsraum, sondern vermehrt auch als Aufenthaltsraum nutzen.

ROADMAP: Welche Schritte sind notwendig für die Schaffung von mehr Lebensqualität in Wien?
LETH: Politischer Wille. Die notwendigen Maßnahmen sind längst bekannt: weniger, langsamerer Kfz-Verkehr, damit weniger Lärm und höhere Verkehrssicherheit. Wohngebiete, in denen Kinder wieder auf der Straße spielen können. Wohnortnahe Erholungsbereiche vor allem für jene, die keine Dachterrasse und kein Wochenendhaus im Grünen haben. Ein inklusives Verkehrssystem, in dem vom Schulkind bis zur Seniorin mit Rollator alle selbstständig und gefahrlos mobil sein können. Grätzl, in denen man an drei Geschäften des täglichen Bedarfs vorbeikommt, bevor man beim Parkplatz ist.

ROADMAP: Wie haben sich die COVID-Maßnahmen auf das Mobilitätsverhalten in Wien ausgewirkt und gibt es Unterschiede zwischen Lockdown 1 und Lockdown 3?
LETH: Die COVID-Maßnahmen haben zu mehreren, sich überlagernden Effekten im Mobilitätsverhalten geführt: Es waren generell weniger Menschen außer Haus mobil (Anm.: Homeoffice, Homeschooling). Jene, die mobil waren, haben vermehrt Individualverkehrsmittel (Anm: Fuß, Rad, Pkw) genutzt, während der öffentliche Verkehr starke Fahrgasteinbußen hatte. Die zurückgelegten Entfernungen haben abgenommen. Das heißt, dass vermehrt Ziele in der unmittelbaren Wohnumgebung aufgesucht wurden – zum Beispiel zum Einkaufen. Freizeitwege haben stark zugenommen. Vor allem der Radverkehr hatte teilweise Steigerungsraten von plus 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat (Anm.: Zählstelle Donaukanal). Die Wirksamkeit der Lockdowns auf das Mobilitätsverhalten hat aber sichtbar abgenommen.

ROADMAP: Wie sieht die Prioritätenreihung in Bezug auf künftige Stadtplanung aus? Hat der Fußgänger auch in Zukunft immer Vorrang und welche Rolle spielt der zunehmende Radverkehr?
LETH: Die Prioritätenreihung muss sich an der Funktion des öffentlichen Raums orientieren. Der Verkehrsbedarf in einer wachsenden Stadt – die Bevölkerungszahl wohlgemerkt, nicht die Verkehrsfläche – ist nur mit flächeneffizienten Verkehrsmitteln zu befriedigen: Auf Hauptstraßen sind das der öffentliche Verkehr und der Radverkehr. In Wohngebieten wird der Fuß- und Radverkehr dominieren. Der Privat-Pkw wird in der Stadt keine Rolle mehr spielen. Notwendige Kfz-Wege werden mit wenigen, geteilten Autos zurückgelegt werden (Anm.: Car-Sharing). Alles andere würde zu viel wertvollen Lebensraum verbrauchen. Die Rolle des Radverkehrs wird – vor allem auch mit zunehmender E-Unterstützung – eine Ergänzung zum öffentlichen Verkehr auf kurzen und mittleren Strecken.

ROADMAP: Welche Auswirkungen haben die COVID-Maßnahmen auf das Transportaufkommen?
LETH: Die Auswirkungen auf den Personenverkehr habe ich schon erwähnt. Auf den Güterverkehr hatten die COVID-Maßnahmen deutlich geringere Auswirkungen. Teilweise profitierte der Güterverkehr sogar davon, zum Beispiel durch Online-Bestellungen und Lieferdienste.

ROADMAP: Um den Sicherheitsabstand in der Stadt zu ermöglichen wurden temporäre Maßnahmen wie etwa Begegnungszonen gesetzt. Welche Maßnahmen haben sich als „sinnvoll“ erwiesen und könnten sich diese auch langfristig etablieren?
LETH: Fußgänger*innen durch temporäre Begegnungszonen mehr Platz einzuräumen war eigentlich eine gute Idee. Die sinnvolle Umsetzung ist allerdings an bürokratischen und politischen Rahmenbedingungen gescheitert: Vor allem die Vorgabe, dass keine Parkplätze entfallen durften, führte dazu, dass sich die temporären Begegnungszonen – vom Verkehrsschild am Anfang und Ende abgesehen – nicht von anderen Straßen unterschieden. Es wurden auch keinerlei Gestaltungsmaßnahmen wie temporäre Begrünung, Sitzgelegenheiten oder Bodenbemalung vorgenommen. Entsprechend gering fiel die Nutzung durch Fußgänger*innen aus. Die Lehre daraus, die aber ohnehin schon lange bekannt ist: Menschen richten ihr Verhalten nach der optischen Gestaltung ihrer Umgebung, nicht nach Verkehrszeichen.

Die Pop-up-Radwege hingegen wurden, nach Anlaufschwierigkeiten, sehr gut angenommen und entlasteten die enge, bestehende Radinfrastruktur. Dass nicht viel mehr davon errichtet wurden und dass die Umgesetzten weder verlängert noch permanent gemacht wurden, ist dem Wiener Wahlkampf geschuldet. Während überall anders weltweit Pop-up-Radwege als schnelle und kostengünstige Möglichkeit erfasst wurden, dem gerade während COVID rasch wachsenden Radverkehr eine adäquate Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, wurden sie in Wien als Wahlkampfgag abgetan. Noch immer wären sie dringend notwendig, um zügig aus dem seit Jahrzehnten lückenhaften Fleckerlteppich ein wirkliches Radnetz zu schaffen. Wien sollte sich diesem internationalen Trend nicht länger verschließen.

ROADMAP: Macht die COVID-Krise den Verkehr sicherer?
LETH: Jein. Die Anzahl der Verkehrsunfälle, Verletzten und Getöteten hat vor allem im Zeitraum der starken COVID-Maßnahmen merklich abgenommen. Die Unfallursache „überhöhte Geschwindigkeit“ hat aber deutlich zugelegt. Die leeren Straßen verleiten offensichtlich zum Rasen. Nur im Radverkehr stiegen die Unfallzahlen sogar, allerdings aufgrund der häufigeren Nutzung.

ROADMAP: Wie kann man nun diese Erfahrungen nutzen, um tatsächlich das Mobilitätsverhalten auch nach der Krise in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu beeinflussen?
LETH: Die Erfahrungen, die in der Krise gemacht wurden, sind nicht neu. Dass Angebot (Anm.: z.B. sichere Radwege) Nachfrage schafft, lernen Studierende in der Grundvorlesung „Verkehrsplanung“. Die Krise bietet aber eine seltene Gelegenheit, das Mobilitätsverhalten der Menschen nachhaltig zu ändern. Nur dann, wenn Routinen – und die Verkehrsmittelwahl ist eine starke Routine – hinterfragt werden müssen, sei es aufgrund eines Wohnorts- oder Arbeitsplatzwechsels oder eben aufgrund einer Krisensituation, überdenken Menschen ihr Mobilitätsverhalten. Dann probieren sie Neues aus. Und vielleicht bemerken sie ja, dass Radfahren doch ganz angenehm ist und integrieren es in ihre Mobilitätsoptionen. Aber nur dann, wenn sie nicht beim ersten Versuch gleich verschreckt werden. Genau deshalb wären großzügige Pop-up-Radwege aktuell gerade so wichtig.

Die Krise hat aber auch gezeigt, dass zu ihrer Bewältigung entschlossenes, zielgerichtetes und koordiniertes Handeln aller Akteure unerlässlich ist. Diese Erkenntnis werden wir noch brauchen, wenn wir, wenn die COVID-Krise überwunden ist, noch immer in der sich unaufhörlich zuspitzenden Klima-Krise stecken.

Alle Infos zur Studie der TU Wien:

Diese Studie beschäftigt sich einerseits mit den Auswirkungen von COVID-19 auf die Mobilität allgemein und evaluiert die Maßnahmen der Stadt Wien im speziellen. Die verkehrlichen Wirkungen der temporären Begegnungszonen und Radfahrstreifen wurden für ausgewählte Standorte analysiert und daraus Schlussfolgerungen und Empfehlungen abgeleitet.

Der Link zur Studie: Mobilität in Wien unter COVID19 – Begleituntersuchung Temporäre Begegnungszonen und Pop-Up Radinfrastruktur

Univ.Ass. Dipl.-Ing. Ulrich Leth © TU Wien

Univ.Ass. Dipl.-Ing. Ulrich Leth ist im Forschungsbereich Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Technischen Universität Wien – Institut für Verkehrswissenschaften tätig.

 

 

 

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