Mobilität gehört in unserer Gesellschaft zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten. Und obwohl Mobilität für Freiheit, Fortschritt und Wohlstand steht, denken wir im Alltag nur selten über unsere Fortbewegung nach. Dieser wichtigen Aufgabe gehen deshalb am Center for Mobility Systems des AIT Austrian Institute for Technology rund 100 MitarbeiterInnen und ForscherInnen nach. Im Gespräch mit dem Head of Center DI Arno Klamminger sprechen wir über die Perspektiven für die Mobilität der Zukunft.
Herr DI Klamminger, wenn ich morgens auf dem Weg zur Arbeit in der Straßenbahn stehe, nehme ich das als selbstverständlich wahr. Möchte ich Freunde in einer fernen Stadt besuchen, steige ich in den Flieger und bin kurze Zeit später da. Ich kann mir jederzeit ein Auto mieten und am Wochenende aufs Land fahren. Mein Gefühl sagt mir, dass ich in einem uneingeschränkten und perfekten Mobilitätssystem lebe. Können Sie das bestätigen?
Das hängt natürlich sehr stark von der Perspektive ab, und von meinen individuellen Bedürfnissen. Gerade im urbanen Raum ist das Angebot an öffentlichem Verkehr natürlich groß, insbesondere Wien gilt hier als Vorreiter. Am Land ist es eine deutlich größere Herausforderung, öffentlich von A nach B zu gelangen. Hier können neue Technologien, beispielsweise autonome Shuttles für die so genannte letzte Meile, enorme Fortschritte bringen. Dabei ist auch immer die Wirtschaftlichkeit, der Business Case, zu berücksichtigen.
Auch spielt die Frage der Leistbarkeit eine große Rolle – steht das Mobilitätssytem allen mehr oder weniger uneingeschränkt zur Verfügung, oder handelt es sich um ein exklusives Angebot? Soziale Inklusion spielt in unserer Forschungsarbeit eine große Rolle.
Und nicht zuletzt ist es sinnvoll und notwendig, sich dem Thema Nachhaltigkeit und Klimaverträglichkeit zu stellen. Auch wenn es bequem ist, für kurze Wege den PKW zu verwenden, oder reizvoll, übers Wochenende in eine europäische Hauptstadt zu jetten – umweltverträglich ist das nicht.
Was „perfekt“ ist, lässt sich also nicht eindimensional beantworten, aber grundsätzlich haben Sie natürlich recht: Die Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, waren in dieser Form noch nie da.
Zahlreiche Unternehmen und Start-Ups im Mobilitätsbereich haben in den vergangenen Jahren mit viel Phantasie und Kreativität neuartige Mobilitätslösungen entwickelt. Ich denke beispielsweise an Hyperloops, Flugtaxis oder das heute zur Normalität gehörende Car-Sharing. Welche Anforderungen müssen neuartige Mobilitätslösungen erfüllen, um positiv zur Mobilität der Zukunft beizutragen?
Neue Technologien wie Hyperloops, Flugtaxis oder automatisierte Fahrzeuge können und werden in der Zukunft eine Rolle spielen. Umso wichtiger ist es, diese auf sinnvolle Art und Weise in das Mobilitätssystem zu integrieren. In der Forschung interessieren uns da ganz besonders die Schnittstellen – zwischen vorhandenem Angebot und neuen Lösungen, zwischen den unterschiedlichen Verkehrsmodi und der Transportinfrastruktur, und auch zwischen Personenmobilität und Güterverkehr.
Im Bereich der Personenmobilität wird es aus unserer Sicht immer stärker darum gehen, individuelle Bedürfnisse zu erfassen und das System so auszugestalten, dass maßschneiderte Lösungen möglich sind, unter attraktiver Einbindung alternativer und neuer Fortbewegungsmittel. Dazu bedarf es einer umfassenden Kooperation der Anbieter. Im Sinne der Wertschöpfung ist das natürlich eine Herausforderung – ein wichtiges Thema, dem wir uns in der Forschung stellen.
Auch im Bereich des Gütertransports bedarf es der Zusammenarbeit: Kooperative Logistiksysteme ermöglichen eine bessere Auslastung der Transportmittel, führen somit zu höherer Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitiger Schonung der Umwelt. Dabei spielt das Bereitstellen von Daten, auch über die eigenen Unternehmensgrenzen hinweg, eine große Rolle. Wir als Forschungspartner tragen dazu bei, indem wir innovative Logistikkonzepte, Lösungen zur Optimierung von Tourenplanungen oder zur Automatisierung von Hoflogistik erarbeiten.
Wir sprechen beim Thema Mobilität von einem System. Das bedeutet, zahlreiche Stakeholder aus Industrie, Politik, Forschung und Zivilgesellschaft interagieren und beeinflussen das System wechselseitig. Welche Aufgabe und welchen Stellenwert nimmt die Forschung in diesem Wechselspiel ein?
Wir als Forschungsinstitution sehen uns als Partner aller Akteure, aber natürlich auch als Teil des Systems. Wir unterstützen mit Analysen und wissenschaftlichem Know-how und bieten fundierte Entscheidungsgrundlagen für Politik und Verwaltung. Weiters entwickeln wir aus unseren Forschungsprojekten heraus konkrete Lösungen für die Industrie, jedoch ohne dem spezifischen Produktinteresse eines rein privatwirtschaftlich geführten Unternehmens.
Die Digitalisierung beeinflusst heute so gut wie jeden Lebensbereich des Menschen. Auch im Bereich der Mobilität werden digitale Services genutzt, Daten produziert und erfasst. Wie können diese Daten genutzt werden, um positive Entwicklungen im Mobilitätssystem voranzutreiben?
Eine umfassende Digitalisierung ist zweifellos essenziell für das Mobilitätssystem von morgen. Dazu bedarf es unterschiedlicher Kompetenzen: Basis ist die adäquate Erfassung und Analyse der Daten. Das ermöglicht die Entwicklung entsprechender Algorithmen und Simulationen, um darauf aufbauend Vorhersage- und Optimierungsmodelle zu entwerfen. Nicht zuletzt ist die Fähigkeit zur Verarbeitung und Interpretation riesiger Datenmengen gefragt. Künstliche Intelligenz kann da einen wichtigen Beitrag leisten.
In unserer Forschungsarbeit beschäftigen wir uns ganz konkret mit digitalen Lösungen für das Mobilitätssystem. Dafür möchte ich ein paar Beispiele nennen: Mittels vollautomatischer Transportmittelerkennung am Smartphone ergeben sich ganz neue Möglichkeiten für ein Ticketingsystem der Zukunft. Im Bereich des Gütertransports forschen wir an Optimierungstools für Routen- und Flottenplanung, Baustellenlogistik oder innovativen Hub-Lösungen für Ballungszentren. Und auch die Infrastruktur wird zunehmend digitalisiert: Mit unseren Hightech-Messfahrzeugen und mobilen Messlabors vermessen wir hochgenau den Straßenraum und bieten so die Basis für Optimierungen im Erhaltungsmanagement, zur Verbesserung der Verkehrssicherheit und im Lärmschutz.
Welche Risiken und Gefahren können auf der anderen Seite entstehen, wenn die Digitalisierung des Mobilitätssystems uneingeschränkt Einzug in unseren Alltag erhält?
Die Dystopie des „gläsernen Menschen“ wirft natürlich Fragestellungen vor dem Hintergrund des Missbrauchs sensibler Mobilitätsdaten auf. Im Zusammenhang mit automatisierten oder gar autonomen Fahrzeugen sind ebenfalls ethische Aspekte zu berücksichtigen. Auch für Risiken im Bereich Cyber Security braucht es adäquate Antworten. Alles Themen, die in unserem Forschungsalltag eine entsprechend große Rolle spielen.
Doch auch ganz praktische Aspekte sind zu betrachten: Sich alleine auf digitale Helfer zu verlassen hat schon so manche Schlagzeile mit auf Gehwegen steckengebliebenen Autos gebracht.
Am Center for Mobility Systems wurde in den vergangenen Wochen auch an Mobilitätslösungen im Kontext der Covid-19-Krise gearbeitet. Können Sie uns darüber etwas erzählen?
Einerseits können wir Einsatzkräfte mit bewährten Technologien zur Routen- und Tourenoptimierung unterstützen – dies ist beispielsweise bei der medizinischen Betreuung von Menschen in Heimquarantäne oder bei Exekutiveinsätzen von Bedeutung. Andererseits stellen wir mit SIMULATE eine bewährte Lösung zur Evaluierung und Vorhersage von Personenflüssen auf öffentlichen Plätzen oder in Verkehrsinfrastrukturen bereit. EntscheidungsträgerInnen haben somit die Möglichkeit, Maßnahmen zu setzen und deren Wirksamkeit unter der Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitsabstände vorzeitig zu erkennen.
Seit den geltenden Ausgangsbeschränkungen haben wir einen starken Zuwachs digitaler Kommunikation erlebt – sei es privat oder beruflich. Geschäftliche Meetings funktionieren auch ohne die physische Anwesenheit der TeilnehmerInnen. Glauben Sie, dass sich unser Mobilitätsbedürfnis durch die Corona-Krise verändern wird?
Ich persönlich glaube, dass unmittelbar nach Aufhebung der Ausgangs- und Reisebeschränkungen ein gewisser Gegeneffekt eintreten wird: Nach der langen Zeit der eingeschränkten Mobilität sehnen sich viele Menschen nach physischen Reisen. Dennoch zeigt die Krise, in der wir uns gegenwärtig befinden, welche Möglichkeiten entsprechende Onlinetools bieten – aber auch, welche Einschränkungen sie haben. Mittel- bis langfristig werden sich die zugrunde liegenden Technologien jedoch weiterentwickeln und sowohl im Beruflichen wie im Privaten stärker Einzug halten. Dies geht vom Einsatz von Augmented und Virtual Reality bis zu haptischen Hologrammen, die in ferner Zukunft ein noch realitätsnäheres Erleben ermöglichen könnten.
AIT – Center for Mobility Systems
Am Center for Mobility Systems forschen rund 100 MitarbeiterInnen an Lösungen für die Mobilität der Zukunft. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes werden Personenmobilität, Güterlogistik und Transportinfrastruktur behandelt, wobei Effizienz, Sicherheit und ökologische Nachhaltigkeit im Fokus der Forschungsarbeit stehen.
In der kürzlich erschienenen Publikation „Nachhaltig, Sicher & Digital: Perspektiven für ein menschenzentriertes Mobilitätssystem“werden Perspektiven für ein ganzheitliches Mobilitäts-Ökosystem dargestellt. Anhand der Themenfelder Digitalisierung, klimaverträgliche Mobilität, Sicherheit für alle VerkehrsteilnehmerInnen, Effizienz & Resilienz sowie zuverlässige Transportinfrastruktur geben die ExpertInnen Einblick in die verschiedenen Faktoren, die die Mobilität der Zukunft bedingen.
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